Nachhaltigkeit und Corona-Konjunkturpaket – passt das zusammen?
01.07.2020Meinung zum Corona-Konjunkturprogramm sowie der nationalen Wasserstoff-Strategie unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland (Stand 2016), insbesondere der Ziele für den Ausbau Erneuerbarer Energie (SDG 7) und Maßnahmen zum Klimaschutz (SDG 13)
Es gibt noch viel zu tun – so steht es in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, die zuletzt 2018 aktualisiert wurde. Denn per Vertrag haben wir uns im Rahmen der Agenda 21 verpflichtet, das Leitbild der Nachhaltigkeit in Gesellschaft und Wirtschaft umzusetzen.
1. Einleitung
Eine Weiterführung des Versprechens von Wohlstand und Sicherheit für die nächste Generation in unserem Land erfordert dringend, dass sich Entscheidungen der Politik an den globalen Zielen der UN für nachhaltige Entwicklung („Sustainable Development Goals“, kurz SDG) orientieren. Insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen die unbewusste Erwartung auf stetiges Wachstum und unbegrenzte Freiheit in drastischer Art und Weise eingeschränkt wird.
Die Ausmaße der Krise, welche wir aktuell erleben, sind für viele von uns unvergleichbar – schnelles und entschlossenes Handeln ist daher ein Gebot der Zeit. Seit nunmehr über drei Monaten gelten in Bayern restriktive Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie, welche nun sukzessive gelockert werden. Bedenkt man nun, dass diese Einschränkungen temporärer Natur sind bis entsprechende Impfstoffe verfügbar sind, muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Corona-Krise ein Scheinriese im Vergleich zu den Herausforderungen des Klimawandels ist. Gegen den steilen Anstieg der Lufttemperatur und die Unberechenbarkeit des Klimas werden wir nach aktuellem Kenntnisstand keine einfache Therapie entwickeln können, weil es dann zu spät sein wird. Nur durch eine konsequente Vermeidung des Ausbruchs dieser „klimatischen Pandemie“ können wir unser Versprechen gegenüber der nächsten Generation einlösen. Aus diesem Grund müssen sich gerade die jetzt im Rahmen des Corona-Konjunkturprogramms beschlossenen Maßnahmen an den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung messen lassen.
Mit dem Begriff „Krise“ wird oft eine negative Entwicklung beschrieben; doch die Bedeutung geht weiter und umfasst auch Begriffe wie „Höhepunkt“ oder „Wendepunkt“. Wie hat sich die Bundesregierung positioniert und die Nachhaltigkeitsstrategie an diesem historischen Wendepunkt als „Handlungsanleitung für eine umfassende zukunftsfähige Politik“ herangezogen? Wie wurden insbesondere die Nachhaltigkeits-Ziele von bezahlbarer und sauberer Energie, sowie Maßnahmen zum Klimaschutz in dem gewaltigen 130 Mrd. Euro umfassende Konjunktur- und Zukunftsprogramm des Koalitionsausschusses vom 03.06.2020 berücksichtigt?
2. Welche Maßnahmen wurden im Konjunkturprogramm vereinbart?
Im Rahmen des Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets sollen die Strompreise wettbewerbsfähig gestaltet werden. Dazu ist vorgesehen, die EEG-Umlage durch Einnahmen des Brennstoffemissionshandelsgesetzes (BEHG) sowie zusätzlichen Haushaltsmitteln des Bundes auf 6,5 ct/kWh für 2021 und 6,0 ct/kWh für 2022 zu stabilisieren. Damit soll in Deutschland der Übergang hin zu einer strom- und wasserstoffbasierten Wirtschaft weiter vorangetrieben werden.
Im Rahmen des Zukunftspakets stehen insbesondere Investitionen in Klimatechnologien im Fokus. Die Kfz-Steuer soll sich stärker am CO2-Ausstoß orientieren. Darüber hinaus sollen Anreize geschaffen werden, die den Umstieg auf effizientere und klimafreundliche Elektrofahrzeuge begünstigen. Ladeinfrastruktur, Batteriezellenfertigung und Forschung werden unterstützt, genauso wie die Deutsche Bahn. Weiter soll mit Fördermitteln der Umstieg auf effizientere oder alternative Antriebe bei Bussen und Lkw gelingen, um die Transportbranche umweltfreundlicher zu gestalten. Darüber hinaus ist geplant die Schifffahrt als klimafreundliches Verkehrsmittel zu stärken und zu modernisieren. Hier soll z. B. die Nutzung von LNG (Liquid Natural Gas) in der Schifffahrt durch ein neues Förderprogramm ausgedehnt werden.
Mit einem Volumen von 9 Mrd. Euro kann die nationale Wasserstoffstrategie als Kernstück innerhalb des Zukunftspakets gelten: Zentrale Ziele sind, international Spitzenreiter als Ausrüster für die Wasserstoff-Technologie zu werden und industrielle Erzeugungskapazitäten in Deutschland von 5 GW bis 2030 und weiterer 5 GW bis 2040 zu schaffen. Dieser Ausbau soll durch die entsprechend zu errichtenden Energiegewinnungsanlagen an Land und auf See flankiert werden. Weiterhin beabsichtigt die Bundesregierung die Produktion von grünem Wasserstoff von der EEG-Umlage zu befreien und den Einsatz von Wasserstoff bei bestimmten Verkehrsmitteln wie Schwerlast- und Flugverkehr anzureizen. Insbesondere sollen die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass industrielle Prozesse schneller von der Nutzung fossiler Energie auf Wasserstoff umgerüstet werden können.
Neuer Schwung soll dem Ausbau erneuerbarer Energien durch die Abschaffung des Deckels für die Förderung von Photovoltaik und die Anhebung des Ausbauziels der Offshore-Windkraft von 15 auf 20 GW Leistung in 2030 verliehen werden. Die Festlegung von Abstandsregeln für neue Windkraftanlagen soll in Zukunft Ländersache sein, um so die Akzeptanz der Bevölkerung vor Ort zu erhöhen und den stockenden Neubau wieder in Fahrt zu bringen. Darüber hinaus sollen die Finanzmittel für das bestehende Gebäudesanierungsprogramms für 2020 und 2021 auf insgesamt 2,5 Mrd. Euro aufgestockt werden.
3. Welche Ziele wurden in der Nachhaltigkeitsstrategie definiert und wie ist der aktuelle Stand der Umsetzung?
Im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung steht insbesondere das Ziel, den Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle zu sichern (SDG 7).
Dazu heißt es in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung aus 2016:
"Die nationale Umsetzung des SDG 7 erfolgt mit der Energiewende, die in Deutschland den Rahmen für eine nachhaltige Energiepolitik mit langfristigen Zielen setzt. Die Energiewende ist zudem zentraler Bestandteil der deutschen Klimaschutzpolitik." (vgl. SDG 13)
Die Umsetzung einer nachhaltigen Energieversorgung wird durch die Unterziele Verdoppelung der erneuerbaren Energien am globalen Energiemix (7.2) sowie Verdopplung der weltweiten Steigerungsrate der Energieeffizienz (7.3) ergänzt. Daraus wurden folgende Maßnahmen für Deutschland abgeleitet und in der Nachhaltigkeitsstrategie festgeschrieben:
- Steigerung des Anteils EE am Brutto-Endenergieverbrauch auf 18 % in 2020 (7.2)
- Steigerung der Energieeffizienz durch Senkung des Gesamt-Primärenergieverbrauchs von 2008 auf 2020 um 20 % (7.3)
- Erhöhung der Endenergieproduktivität um 2,1 % jährlich von 2008 bis 2050 (7.3)
- Steigerung der Energieeffizienz durch Senkung des Endenergieverbrauchs bis 2020 im Verkehrsbereich um 10 % gegenüber 2005 (7.3)
- Senkung des nicht EE-Anteils des Primärenergiebedarfs im Gebäudebereich bis 2050 in einer Größenordnung von 80 %
Die Nutzung erneuerbarer Energien im Verkehrsbereich wird aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht mit einer konkreten Maßnahme und einem überprüfbaren Zielwert versehen. Stattdessen heißt es lediglich: „es bedürfe weiterer Anstrengungen“.
Eine konkrete Aussage zur nachhaltigen Mobilität ist das nicht: ohne definierten Zielwert und ohne Messgröße lässt sich ein Fortschritt nur schwer überprüfen. Um die „weiteren Anstrengungen“ glaubhaft zu machen, muss hier ein aussagekräftiger Indikator definiert und ambitionierter Zielwert gesetzt werden. Ohnehin ist der Verkehrssektor der Bereich, welcher bisher am wenigsten zur Zielerreichung beigetragen hat.
Die folgenden drei Grafiken geben den aktuell verfügbaren Stand der Zielerreichung wieder: (Destatis, Umweltnutzung und Wirtschaft – Ausgabe 2019)
Leider ist festzustellen, dass aus Sicht des Energieverbrauchs sowie der Energieproduktivität die Ziele für 2020 nicht erreicht werden. Lediglich hinsichtlich des Anteils Erneuerbarer Energien (EE) bleibt die Hoffnung, die Zielmarke 2020 zu erreichen, möglicherweise aber nur aufgrund der Corona-Pandemie. Die Entwicklung der Indikatoren im Verkehrsbereich lässt hingegen vermuten, dass keine nennenswerte Motivation besteht, den Energieverbrauch in diesem signifikant zu senken.
Leitbild und Maßstab für die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung ist das Ende 2015 verabschiedete Klimaschutzabkommen von Paris. Konsequenterweise werden daher im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie ebenfalls Maßnahmen gegen den Klimawandel angekündigt.
Ziel des Abkommens von Paris ist es, den Temperaturanstieg deutlich unter 2 °C zu halten und die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit zu erhöhen. Zur Stärkung der Widerstandskraft und der Anpassungsfähigkeit gegenüber klimabedingten Gefahren (Unterziel 13.1) sowie der Einbeziehung von Klimaschutzmaßnahmen in nationale Politiken (Unterziel 13.2) äußert sich die Bundesregierung folgendermaßen:
"Zu einer erfolgreichen Klimapolitik, die sich an den langfristigen Zielen orientiert, müssen neben dem Energiesektor alle Handlungsfelder, wie Verkehr, Landwirtschaft, Gebäude, Industrie und Gewerbe, Handel, Dienstleistungen (GHD) einbezogen werden."
Als relevanter Indikator für den Bereich der Umsetzung von Ziel 13.2 auf nationaler Ebene dient die Summe der jährlichen THG-Emissionen. Als konkrete Maßnahme gegen den Klimawandel steht das feste Ziel, die THG-Emissionen bis 2020 um 40 % gegenüber 1990 zu senken. Dies soll durch einen breiten Instrumentenmix aus Förderprogrammen, ökonomischen Instrumenten und gesetzlichen Regelungen für alle Sektoren erreicht werden. (13.1.a Treibhausgasemissionen). Ende 2018 betrug der Indexwert der THG-Emissionen 69,4. Gegenüber 1990 bedeutet das einen Rückgang von lediglich 30,6 % (Destatis, Umweltnutzung und Wirtschaft – Ausgabe 2019). Das Ziel einer Reduktion der THG-Emissionen von 40 % bis zum Jahr 2020 wird daher mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls verfehlt werden.
4. Das Konjunkturpaket aus Sicht der Nachhaltigkeitsstrategie
Die im Konjunkturpaket angekündigte Senkung der EEG-Umlage durch Zuschüsse aus Haushaltsmitteln des Bundes sowie Einnahmen des BEHG ist grundsätzlich zu begrüßen, denn marktübliche Strompreise sorgen für eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschlands und für eine Entlastung der privaten Haushalte. Damit wird auch das Ziel eines dauerhaften und breitenwirksamen Wirtschaftswachstums unterstützt (SDG 8).
Um aber das Wachstum nachhaltig zu gestalten darf nicht erneut fossile Energie der wesentliche Treibstoff unserer Wirtschaft sein. Die Senkung der EEG-Umlage kann daher nur ein Zwischenschritt sein. Ziel muss es sein, durch eine entsprechende Gestaltung des Systems an staatlichen Abgaben und Umlagen die externen Kosten von fossilen Energieträgern vollständig in deren Preisen abzubilden. Nur so können fossile Energieträger systematisch und schneller als bisher aus allen Bereichen verdrängt werden.
Die im Zuge des Konjunkturpakets festgelegte nationale Wasserstoffstrategie zeigt die vielfältigen Potentiale von Wasserstoff für das Energiesystem sowie die industrielle Produktion auf: vielseitiger Energieträger, langfristiger und gleichzeitig flexibler Energiespeicher, wesentliches Element der Sektorenkopplung für die Anwendungsbereiche, in denen nicht direkt erneuerbarer Strom eingesetzt werden kann und Grundstoff für die chemische Industrie, da dort bisher fossil erzeugter Wasserstoff ohne technische Anpassung ersetzt werden kann. Bereits heute können ca. 230 TWh Arbeitsgas in Deutschland innerhalb unterirdischer Speicher zwischengelagert werden und für vielfältige Anwendungen bereitgehalten werden. Der Vorteil einer durchdachten Wasserstoff-Wirtschaft liegt aber nicht nur in der langfristigen Speicherung von EE: kurzfristige Schwankungen im Stromnetz können ausgeglichen werden und die Abschaltung von EE-Anlagen vermieden werden, indem Elektrolyseure in Betrieb gesetzt werden und Wasserstoff erzeugt wird. Auch als nachhaltiger Kraftstoff (PtX) ist eine Verwendung von Wasserstoff möglich. Insgesamt schätzt die Bundesregierung den Bedarf für die Erzeugung von grünem Wasserstoff auf 20 TWh sauberen Strom.
Also alles im Sinne des Klimaschutzes und einer nachhaltigen Energieerzeugung? Könnte man schlussfolgern, vor allem da die Bundesregierung klarstellt, dass nur grüner Wasserstoff langfristig als nachhaltig bezeichnet werden kann. Die Farbenlehre der Wasserstoffstrategie gibt jedoch zwei weitere Spielarten her: sowohl blauer als auch türkisfarbener Wasserstoff werden als Lösung für die o.g. Anwendungen aufgeführt.
Diese beiden Varianten sind aus Sicht der Nachhaltigkeitsstrategie falsch, da sie nicht dem Ziel einer wirklich nachhaltigen Energieversorgung dienen können und weiterhin dem Klimawandel Vorschub leisten. Als Ausgangsmaterial für blauen und türkisen Wasserstoff werden nämlich fossile Primärenergieträger wie Kohle und Erdgas verwendet. Konsequenterweise müsste er daher als grauer Wasserstoff bezeichnet werden. Nur die Nutzung von grünem Wasserstoff dient den Zielen einer nachhaltigen Energieversorgung und der Senkung von THG-Emissionen. Eine Förderung von Elektromobilität und PtX ohne gleichzeitige massive Förderung der Erzeugung EE ist möglich, aber nicht sinnvoll, denn die Umwandlung von fossiler Energie mittels Wasserstoffes ist Kosmetik und hilft dem Klimaschutz nicht weiter.
Zurecht warnt Claudia Kemfert vor überzogener Euphorie: „Wasserstoff ist nicht das neue Öl.“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland, 11.06.2020) Wasserstoff ist nur dann eine nachhaltige Alternative zu Öl, wenn die Primärenergie, aus der er erzeugt wird aus erneuerbaren Quellen stammt. Will man also den eigenen Zielen einer nachhaltigen Energieversorgung und einer raschen Senkung der THG-Emissionen in allen Sektoren treu bleiben, muss die Wasserstoffstrategie zwingend von einem zügigen Ausbau EE-Anlagen begleitet werden. Als verlässliche und emissionsfreie Energielieferanten sind Photovoltaik (PV) und Windkraft die beiden wichtigsten Primärenergieträger zur Produktion von grünem Wasserstoff.
Die ersatzlose Streichung des 52 GW PV-Deckels ist insofern längst überfällig, vor allem weil weiterhin erheblicher Nachholbedarf hinsichtlich der Umsetzung der bereits bestehenden Ausbauziele besteht (siehe dazu auch Kapitel 2). So sieht der Entwurf der Bundesregierung zum Klimaschutzprogramm vom 09.10.2019 ein Ausbauziel von insgesamt 98 GWp PV-Leistung bis 2030 vor. Dazu wären im Mittel mind. 4,5 GWp/a Zubau notwendig. Zum Vergleich: der Brutto-Zubau in den Jahren 2010-2019 betrug im Mittel nur 3,89 GWp/a (Gesamtzubau laut Bundesnetzagentur vom April 2020).
Dieser unzureichende Zubau muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme von einem technischen Potential von über 800 GWp allein an Gebäudehüllen, d. h. Dächer und Fassaden ausgeht. (Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland, Fraunhofer ISE, Stand: 10.06.2020) Es entsteht der Eindruck, die Bundesregierung lenke mit der angekündigten Wasserstoffstrategie nur von den Problemen hinsichtlich der Erreichung ihrer bereits beschlossenen Ziele im Energiesektor ab.
In diesem Zusammenhang ist es umso unverständlicher, dass im Corona-Eckpunktepapier keine Vorgehensweise für diejenigen EE-Anlagen formuliert wurde, deren gesetzlich gesicherter Vergütungszeitraum 2021 endet. Für den Weiterbetrieb dieser PV-Anlagen herrschen noch immer unklare wirtschaftliche und rechtliche Aussichten. Die Erzeugungskapazität dieser funktionsfähigen Anlagen muss doch unbedingt erhalten werden! Dazu muss die Bundesregierung rasch günstige Bedingungen schaffen, damit nicht der durch die Abschaffung des PV-Deckels forcierte Neubau lediglich das Abschmelzen bestehender Erzeugungskapazitäten kompensiert.
Kritisch ist die nationale Wasserstoffstrategie auch in Anbetracht der aktuellen Entwicklung beim Ausbau der Windkraft zu sehen. Lediglich 529 MW Leistung an Land und 181 MW zur See wurden im Zeitraum von Januar bis April 2020 neu in Betrieb gesetzt. (Gesamtzubau laut Bundesnetzagentur vom April 2020)
Zum 31. Dezember 2019 war eine kumulierte installierte Leistung von 7.516 MW Offshore-Windkraft in Betrieb (Deutsche Wind-Guard, Status des Offshore-Windenergieausbaus in Deutschland – Stand 2019). Mit der Anhebung des Ausbauzieles für Offshore-Windkraft von 15 GW auf 20 GW für 2030 geht die Bundesregierung in die richtige Richtung, dennoch muss auch hier nachgebessert werden, wie der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) gezeigt hat. Auf Basis des Klimaschutzprogramms 2030 der Bundesregierung wurde ermittelt, dass im Bereich der Offshore-Windkraft ein Zubau von 2 GW jährlich und im Bereich der Onshore-Windkraft ein Zubau von 4,7 GW jährlich bis 2030 erforderlich ist. Denn die steigende Nachfrage nach Strom, auch aufgrund zunehmender Sektorenkopplung, muss vorwiegend aus EE bedient werden, um die Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie zu erreichen (BEE-Szenario 2030, Stand März 2020).
Vollends in Frage zu stellen wäre die Orientierung der Wasserstoffstrategie an den Nachhaltigkeitszielen jedoch spätestens bei Betrachtung des Ausbaus der Windkraft an Land. Für 2019 wurde ein Netto-Zubau von lediglich 0,981 GW verzeichnet, was den niedrigsten Wert in 20 Jahren darstellt. Immerhin wurde in den Jahren 2009-2018 im Mittel ein jährlicher Zubau von 3,1 GW erreicht (Deutsche Wind-Guard, Status des Windenergieausbaus an Land in Deutschland – Stand 2019). In der Wasserstoffstrategie und dem Corona-Eckpunktepapier findet sich keine weitere Aussage zur Onshore-Windkraft wie:
"Die Länder erhalten die Möglichkeit, zur Steigerung der Akzeptanz von Windkraft-Anlagen Mindestabstände von 1.000 Metern gesetzlich festzulegen. Darüber hinaus wird eine Möglichkeit geschaffen, mit der Kommunen und Anwohner stärker von den finanziellen Erträgen der Windkraft profitieren."
Es bleibt also schleierhaft, wie der erforderliche Zubau aufgrund solcher Lippenbekenntnisse wieder an Stärke gewinnen soll. Damit drängt sich die Frage auf, woher der grüne Wasserstoff für unsere Industrie, für die Mobilität und für den Ausgleich der Netzschwankungen denn kommen soll, wenn die erforderlichen Kraftwerke nicht errichtet werden. Wenn das Zukunftspaket tatsächlich für Investitionen in Klimatechnologien im Sinne der Nachhaltigkeitsziele stehen und nicht als nur als grüne kosmetische Maßnahme gelten soll, muss auch der Zubau der Onshore-Windkraft aktiv vorangetrieben werden. Dazu müssen rechtliche und wirtschaftliche Hemmnisse in allen Formen abgebaut werden.
Denn „Shipping the sunshine“ – also der Import von grünem Wasserstoff aus Ländern mit günstigen Produktionsbedingungen – wird nicht schnell und in wesentlichen Mengen möglich sein. Diese Option ist langfristig denkbar. Jedoch sind an importierten Wasserstoff die gleichen Anforderungen zu stellen wie an inländisch produzierten grünen Wasserstoff, schon allein um die selbstgesteckten Nachhaltigkeitsziele hinsichtlich der Energieversorgung und des Klimaschutzes nicht aufzuweichen. Zur Sicherstellung der „grünen Eigenschaft“ des Wasserstoffs müssen zuerst einmal verlässliche Nachhaltigkeitsstandards für Produktion und Transport entwickelt werden. Im Sinne der Nachhaltigkeitsziele schließt dies auch ein, dass durch den Import von Wasserstoff nach Deutschland keine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Exportländer stattfinden darf.
5. Zusammenfassung
Wie kann also ein Vorgehen aussehen, dass die Nachhaltigkeitsstrategie mit dem Konjunkturpaket vereint?
Eine zentrale Rolle für das Erreichen der hier betrachteten Ziele aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung spielt zuerst einmal die Steigerung der Energieeffizienz und die umfassende Nutzung der erneuerbaren Energien. In diesem Sinne ist es doch naheliegend, die bereits aufgebauten Kapazitäten an EE-Kraftwerken zu sichern und solide Modelle für einen Weiterbetrieb dieser Anlagen zu schaffen. Zeitgleich müssen weitere technisch und wirtschaftlich erschließbare Potentiale von EE vor Ort konsequent genutzt sowie rechtliche und wirtschaftliche Hemmnisse abgebaut werden. Parallel dazu ist der Aufbau von Kapazitäten zur Erzeugung, Transport und Nutzung von grünem Wasserstoff bereitzustellen. Der letzte Baustein auf dem Weg zu einer nachhaltigen Industriegesellschaft ist der Import von grünem Wasserstoff.
Reicht also das bisher Beschlossene aus, um Nachhaltigkeit und Konjunkturpaket zu vereinen?
Nein, denn insgesamt muss man feststellen, dass die Bundesregierung in ihren Ambitionen zur Krisenbewältigung leider hinter den eigenen Zielen aus der Nachhaltigkeitsstrategie zurückbleibt. Gerade die Umsetzung der nationalen Wasserstoffstrategie muss so gestaltet werden, dass sie sich deutlich stärker an den Zielen der Nachhaltigkeitsstrategie orientiert. Sie darf nicht dazu dienen, bereits überholte und klimaschädliche Geschäftsmodelle noch einige Jahre weiterbetreiben zu können. Um es in den Worten der Bundesregierung zu sagen: Es gibt noch viel zu tun, um die eigenen Ziele umzusetzen.
Ein Beitrag von Matthias Steindl